© Helga Paris, am Set
Herzsprung von Helke Misselwitz, 1991
LEBENSLAUF
Ich habe bestimmt
etwas vergessen
An meine Geburt erinnere ich mich nicht wie wahrscheinlich an viele andere wichtige Ereignisse ebenfalls. Aber wer weiß wozu das gut ist? Gott sei Dank kann der Mensch vergessen. Nur, was ist dann ein Lebenslauf? Ein Verlauf von
Ereignissen, in die man gestellt wird, in die man sich begibt, die man erinnert, die man vergisst?
Ich wurde in Berlin geboren, am 13. Juli 1946. Anschließend bin ich in Berlin aufgewachsen. Einer, wegen des glücklicherweise verlorenen zweiten Weltkrieges, leider gevierteilten Stadt. Hier bin ich zur Schule gegangen, habe mein Abitur bestanden und Schauspiel studiert. Ich hoffte so, im Spiel, verschiedene Biographien erleben zu dürfen, mich nicht entscheiden zu müssen. Später habe ich festgestellt, diese Hoffnung war unsinnig. Ich hatte mich entschieden, ein Leben im, um und mit dem Theater gewählt. Ich hatte nur nicht gewusst, was das bedeutet. Hier könnte man den Eltern noch mal die Schuld an dem eventuell Verpassten geben, aber ich kann das auch lassen. In der Zwischenzeit wurde 1961 eine Mauer durch Deutschland gezogen, Berlin, die Stadt in der mein Leben verlief, hatte sich zum sichtbaren Zentrum der Folgen eines Krieges entwickelt, den ich nicht erlebt, dessen tatsächliche Barbarei aber meinen Lebenslauf bestimmte. Siebzehn Jahre arbeitete ich an der Volksbühne im Wesentlichen unter der Leitung von Benno Besson. Im Januar 1985 ging ich nach Bochum ans Schauspielhaus unter Leitung von Claus Peymann.
Seit 1989, mit der Öffnung der Mauer, sollen die Folgen des deutschen Faschismus und der folgende kalte Krieg keine Folgen mehr haben. Das kann ich mit meinem Leben leider nicht bestätigen. Das Provinzielle des innerdeutschen Interpretationsschlachtfeldes ändert nichts daran, dass der Einzelne damit in seinem Lebenslauf bestimmt wird. Die Tatsache, das wir Menschen unser Leben gestalten können und doch jeder einzelne so sehr von den Möglichkeiten und vor allem Unmöglichkeiten in die sein Leben gestellt ist abhängt, lässt immer neue, gleiche Fragen an das Theater zu. Nach einem aufregenden Regieversuch 1983 in Anklam, haben mich seit 1987 meine Fragen und die anderer Schauspieler von der Bühne in den Zuschauerraum gedrängt. Wenn ich Glück habe und das Leben es mir gestattet, kann ich jetzt als Regisseurin auch andere mit meinen Fragen tyrannisieren.
Was erleben wir? Wie erleben wir was? Was können wir sehen? Was wollen wir sehen? Was dürfen wir sehen? Wie komme „ich“ unter „uns“ zu recht? Warum ist etwas so und nicht anders? Also, ich habe ein sehr luxuriöses Leben. Ich muss nicht nur überleben. Ich darf, soll und kann am Theater immer neu versuchen zu verstehen, was gerade wieder nicht zu verstehen ist. Und dabei verläuft mein Leben. Das ist es wohl. Ich glaube, ich habe bestimmt etwas vergessen.
