27.10.25 | DER FREITAG

Die Teilung wird erneut erzeugt

Frau Gysi, wenn man Ihr Buch liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Sie mit Ihrem Bruder viel über Politik streiten können. Tun Sie das? Wir könnten streiten, wenn wir denn noch streiten würden. Aber Gregor und mir geht es nicht anders als vielen Familien in Deutschland seit der Corona-Zeit: Wir haben doch sehr unterschiedliche Haltungen zu gleichen Ereignissen. Und wenn man die Argumente einmal ausgetauscht hat, entsteht ein Punkt, an dem man dazu schweigt.

Bald jährt sich der Mauerfall zum 36. Mal. Wieso haben Sie noch ein Buch zu Ost und West vorgelegt? Ist dazu nicht alles gesagt? Der Verleger des Westend Verlags, Markus J. Karsten, hat mich gefragt, ob ich anlässlich des Jahrestages des Mauerfalls am 9. November ein Buch schreiben würde. Den titelgebenden Essay über die besagte Nacht hatte ich bereits geschrieben – also habe ich zugesagt. Dann habe ich mich hingesetzt und versucht, zu beschreiben, warum Deutschland gegenwärtig so gespalten ist wie nie zuvor.

Und, warum ist das so? Weil es nie eine echte deutsche Vereinigung gegeben hat. Die wird es erst geben, wenn wir eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte erzählen – das ist die Geschichte zweier deutscher Nachkriegsstaaten, die durch die Alliierten und deren politische Bedürfnisse bestimmt waren. Es sind nicht zwei verschiedene Staaten, von denen einer eine Diktatur war und der andere in der Morgenröte der amerikanischen Demokratie aufging. Hier handelt es sich offensichtlich um Unfug: Ost- und Westdeutschland haben immer in Bezug aufeinander gelebt.

Mit Blick auf die Wiedervereinigung schreiben Sie: „Das war keine friedliche, aber eine stille Revolution gegen die DDR-Bürger.“ Was meinen Sie damit? In dem Zusammenhang fällt mir immer ein Satz von Birgit Breuel ein. Das ist die Dame, die nach der Ermordung von Detlev Rohwedder die Leitung der Treuhand übernommen hatte. Ich saß nach der Wende erstaunt vor dem Fernseher, als Frau Breuel in einem Film über sie selbst zu Journalisten sagte: „Wir kamen, und da war nichts. Da war einfach nichts! Wir mussten alles aufbauen.“ Sie hatte damit 16 Millionen Ostdeutsche zu „nichts“ erklärt. Infolge des erzwungenen Beitritts hat auch eine kulturelle Enteignung der Ostdeutschen stattgefunden. Ihnen wurde Konformität zugeschrieben, während die Westdeutschen im Aberglauben an ihre individuelle Einzigartigkeit weiterträumen durften. Das alles hat stattgefunden, und ich bin nicht bereit, so zu tun, als hätte ich es nicht bemerkt.

Sie schreiben, die „deutsche Frage“ spiegele sich auch in unserem Verhältnis zu Russland wider. Wie meinen Sie das? Historisch gesehen waren deutsche Handwerksburschen immer nach Osten oder Westen, in Richtung Petersburg oder Rom, gewandert. Deutschland liegt in der Mitte Europas, mit kulturellen Verbindungen nach Ost und West. Aus unserer geografischen Lage und unserer Geschichte ergibt sich meiner Meinung nach die Verpflichtung zum Frieden und zum Pazifismus. Dieser Verpflichtung kommt Friedrich Merz nicht nach, wenn er den Eindruck vermittelt, dass er am liebsten den Kreml bombardieren würde. Abgesehen von den ständig schlecht gespielten Leidenschaften im Bundestag handelt es sich um Russophobie. Doch der Größenwahn trägt Früchte. Heute weiß ja auch jeder bundesdeutsche Abiturient, wie man China regieren muss.

Wieso haben die Ostdeutschen ein positiveres Russlandbild als die Westdeutschen? Na, weil sie es kennen! (Lacht.) Statt den Ostdeutschen die Möglichkeit zu geben, mit ihren Verbindungen nach Russland in dieses neue, gemeinsame Deutschland hineinzuwachsen, wurde genau dies gekillt. Es wurde niemals gestattet, dass die Russen mit ihren geschäftlichen Möglichkeiten nach Deutschland kommen. Warum ist Gazprom nicht mehr Sponsor von Schalke 04? Warum wurde Gazprom enteignet? Warum will niemand wissen, wer Nord Stream 2 zerstört hat und warum? Was soll das denn alles?

Man könnte sagen: Weil Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hat. Wenn das so wäre, dürfte kein Austauschschüler mehr in die USA reisen. Also, Angriffskriege stören die derzeitige Regierung nur sehr selektiv. Außerdem ist die jüngere Geschichte zwischen der Ukraine, der NATO und Russland sehr kompliziert, und damit verbietet sich die kindliche Antwort dieser eindeutigen Schuldzuweisung. Wir wollen jetzt nicht wiederholen, was alle wissen und nur verschieden interpretieren.

Kann es sein, dass die Ostdeutschen auch deswegen anders auf den Ukrainekrieg gucken, weil sie nach 1945 die Kriegslast stärker zu spüren bekamen? Bis 1953 musste die DDR Reparationen in Höhe von umgerechnet 4,3 Milliarden US-Dollar an die Sowjetunion zahlen, während die Westdeutschen in den Genuss des Marshallplans kamen … Es ist eine unglaubliche kulturelle Leistung der Russen, die Kriegslast mit den Ostdeutschen geteilt zu haben. Sie haben die Deutschen wie sich selbst als Opfer eines schrecklichen Krieges gesehen. Generell haben sie die Deutschen nie verachtet, sondern für ihre Kultur geschätzt. Das Deutsche Theater wurde 1946 mit Nathan der Weise eröffnet. Die Russen haben den Aufbau Verlag gründen lassen. Es wurden dort Autoren aus ganz Deutschland gedruckt, Exilliteratur und Autoren, die in Deutschland geblieben waren. Im heutigen Wolgograd wird auch der toten deutschen Soldaten gedacht. Und das, obwohl in der Schlacht bei Stalingrad zwei Millionen Leichen die Wolga blutrot gefärbt hatten. Da kann man es doch schlicht nicht fassen, wie schnell wir bereit sind, die Russen für alles Böse in der Welt verantwortlich zu machen und alle vernünftigen Beziehungen zu kappen. Wo ist unsere Großzügigkeit?

Kommen wir zur AfD: Sie haben im brandenburgischen Bürgermeisterwahlkampf eine Veranstaltung der Partei besucht … Jawoll!

Und sich mit dem Kandidaten in Zehdenick, René Stadtkewitz, fotografieren lassen … Jawoll!

War das eine gute Idee? Das war sogar eine sehr gute Idee. Ich kenne Herrn Stadtkewitz: Ein mutiger und sympathischer Mann ist das. Ein Handwerker mit einer netten Frau und zwei süßen Kindern. Während der Pandemie wäre ich sogar beinahe mit ihm an der Siegessäule aufgetreten. Die Demonstration ist dann allerdings abgesagt worden, und die Polizei hat am Veranstaltungsort eine regelrechte militärische Besatzung aufgeführt.

Kann ja sein, dass Herr Stadtkewitz nett ist. Aber muss man deswegen gleich mit ihm auftreten? Warum denn nicht? Mir ist ehrlich gesagt scheißegal, in welcher Partei jemand ist. Er vertritt in Zehdenick die Wünsche der Menschen und gibt ihnen, was sie brauchen.

Man könnte Ihnen vorwerfen, die AfD zu normalisieren … Sie muss normalisiert werden! Ganz dringend sogar! Ich finde es unmöglich, dass sie nicht normalisiert ist.

Warum? Weil sie ein besonders interessantes Gewächs des Nachwende-Deutschlands ist. Sie ist die einzige Partei, die erst im Nachvereinigungsprozess ihre Geschichte geschrieben hat. Sie wurde als bundesdeutsche Unternehmerpartei gegründet und hat dann auf ostdeutsche Unternehmer wie Frauke Petry anziehend gewirkt. So ist aus ihr eine kommunale Bewegung in Ostdeutschland geworden. Diese Partei war ja noch keine Funktionärspartei, und Räume für Beteiligung der Bürger standen offen. Und wer kann es den Leuten verübeln? Das wiedervereinigte Deutschland war für die besitzlos gewordenen DDR-Bürger doch keineswegs ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Und als die Ostdeutschen als Deutsche irgendwann einigermaßen hier angekommen waren, machte sich eine Kultur breit, in der jeder als Nazi beschimpft wird, der „Deutschland“ sagt. Dadurch sind die Ostdeutschen wiederum als ungenügende Europäer gebrandmarkt und die Westdeutschen als Klassenprimus der Globalisierung die besseren Menschen. Damit ist Teilung erneut erzeugt. So sind die Deutschen im Osten zu den neuen Bewahrern gemacht worden: Sie wollen sich nicht schon wieder von einer Elite ihren gerade erkämpften Staat nehmen lassen. Ich glaube, der Erfolg der AfD besteht darin, diesen Tatsachen eine Heimat zu geben.

Sie verteidigen in Ihrem Buch stark den Nationalstaat. Nur er kenne bisher souveräne Bürger, schreiben Sie. Was haben Sie denn gegen die Globalisierung? Neulich fuhr ich mit einem Uber. Der Fahrer kam aus Bangladesch, sprach ein wenig Deutsch und erzählte mir, dass sich seine Frau hier nicht wohlfühlt, weil das Wetter so schlecht sei. Ich habe mir vorgestellt, was für ein Leben das ist: Er spricht kaum Deutsch und fährt mit einem Wagen durch eine Stadt, zu der er keine Verbindung hat. Seine Zielorte, die er nicht kennt, bekommt er auf Englisch von einer Roboterstimme ins Ohr gesagt. Und dann kommt er abends nach Hause und hört die Klagen seiner Frau, die auch seine werden. Die Globalisierung hat eine Masse von Heimatlosen geschaffen, die über diesen Erdball gejagt werden, weil ihnen zu Hause das Geld zum Überleben fehlt. Was soll ich daran gut finden? Ich habe neulich einen schönen Satz von dem französischen Filmregisseur Jean Renoir gelesen. Der hat gesagt: „Je lokaler, desto universeller.“ Das Schöne am Nationalstaat ist, dass er Differenzen zulässt und dadurch Allmacht verhindert. Deswegen glaube ich auch, dass die USA lernen müssen, ein Nationalstaat zu werden: Sie müssen lernen, Grenzen zu akzeptieren, statt sich als Weltpolizist aufzuspielen.

Dann halten Sie auch von der Europäischen Union nicht viel? Die EU-Kommission wird nicht gewählt. Und die Parlamentarier, die gewählt werden, haben nichts zu sagen. Das ist bekannt. Und wie Wahlbeeinflussung in Europa mittlerweile funktioniert, haben wir ebenfalls gelernt – in Rumänien, in Moldawien. Was ist mit der vom BSW schon längst beantragten Neuauszählung der Bundestagswahl? Ich glaube, die Art und Weise, wie demokratisch entwickelte Formalien hinterrücks abgebaut werden, ist nicht mehr zu übersehen. Empörungsmanagement, Cancel Culture, Beeinflussung durch größere Zentralmächte: Das sind Kriege, die sich überall auf dieser Erde gerade abspielen. Deswegen stelle ich mal eine Gegenfrage: Wie könnte eine nach Brüssel abgegebene Souveränität Freiheit bedeuten und nicht Unterordnung unter einen Beamtenapparat, der nichts mit der Realität und mir zu tun hat?

Interview mit Dorian Baganz