07.11.25 | NEUES DEUTSCHLAND
Es gibt so viele Mittelpunkte wie Menschen
»Die Nacht, als Soldaten Verkehrspolizisten wurden« ist Ihr neues Buch getitelt. Ja, um ausgehend von dieser Nacht vom 9. zum 10. November 1989 einen Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte zu werfen. Ein glücklicher Moment der deutschen Geschichte. Es gab eine unglaubliche Gemeinsamkeit, Friedlichkeit, bei soviel Aufregung und soviel individuellen Reaktionen. Die Welt erstaunte über diesen realen Augenblick des Friedens, über eine ungeahnte Friedensfähigkeit. Für mich bleibt damit der 9. November eine Erinnerung an die Irrungen und Wirrungen der deutschen Geschichte, ein Tag, der die Novemberrevolution 1919, die Judenpogrome 1938, den Mauerfall 1989 auf sich vereint.
In Ihrem Buch zitieren Sie seitenweise aus »Antigone«, dem Drama von Sophokles. Was hat die Tochter des Ödipus mit der Berliner Mauer zu tun? Antigone will ihre beiden, im Krieg gegeneinander gefallenen Brüder würdevoll beerdigen. Für die Götter sind offensichtlich im Tod die Menschen gleich. Für Kreon, den König, nicht. Er gestattet nur eine ehrenhafte Beerdigung. Antigone kann das nicht akzeptieren. Die Parallele zu Deutschland ergibt sich aus den Spaltungen der Nachwendegeschichte. Meiner Ansicht nach kann es erst eine wirkliche Vereinigung geben, wenn wir in der Lage sind, eine deutsche Nachkriegsgeschichte zweier gegensätzlicher deutscher Nachkriegsstaaten zu erzählen, die selbstverständlich ihre Ausgangspunkte in den Differenzen der Besatzungsmächte finden. Leider wurde die DDR nach dieser wundervollen Nacht innerhalb eines halben Jahres zum SED-Staat, vom SED-Staat zum SED-Regime, vom SED-Regime zum Unrechtsstaat, vom Unrechtsstaat zum Unrechtsregime und dann wurde Rückgabe vor Entschädigung durchgesetzt. Doch beide deutsche Staaten hatten einen Sitz in der UNO. Sie waren zwei normale Mitglieder der Staatengemeinschaft. Warum diese späte Rache? Es gibt beide deutsche Staaten nicht mehr, denn auch die heutige Bundesrepublik ist nicht die alte. Beide Brüder sind tot.
Antigones Bruder Polyneikes sollte eine würdevolle Bestattung nicht gewährt werden. Sie beklagen, dass dies auch der DDR nicht gegönnt wurde. Genau. Dieser Versuch DDR einer gerechteren Ordnung, die keinen Krieg führte, sich dem Frieden verpflichtet fühlte, hätte eine würdigere Beerdigung verdient. Die heutige bürokratische Sprache spiegelt auch die Vergangenheit nicht real. Wenn eine Gesellschaft aber ihre Voraussetzungen nicht erkennen will, ist ewige Therapie nötig. Ein installierter Opferkult ruft dann nach Herrschaft, die mit bürokratischen Lösungen das gesamte Leben tyrannisieren kann. Alle gesellschaftlichen Bereiche werden bürokratisiert. Alles Leben wird auf bürokratische Akte reduziert.
Laut Ludwig Wittgenstein bestimmt die Sprache das Denken und umgekehrt. Ja. Deshalb sind wir Menschen auch ständig damit beschäftigt, zu suchen, was wir denken. Nicht nur das richtige Wort, was es schon gibt, sondern auch das Wort, was es noch nicht gibt. Es geht darum, Situationen begrifflich fassen zu müssen. Und dieser Prozess ist ewig, identisch mit dem Spielprozess auf der Bühne. In diesem Sinne ist Leben Spiel und Spiel Leben. Beides verlangt immer wieder nach Deutungen.
Mein Eindruck nach der Lektüre Ihres Buches: Sie stellen mehr Fragen, als Sie Antworten geben. Weil ich keine endgültigen Antworten haben kann. Kein Mensch kann aus der Befangenheit seiner Biografie ewige Antworten liefern. Wir können versuchen, unsere Befangenheiten durch Neugier und Fragen zu erweitern, aber wir müssen uns mit den Grenzen unserer Biografien abfinden. Individualität ist nicht allmächtig. Es gibt keine endgültigen Antworten.
Sie beschreiben den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als gigantischen Raubzug. Bis heute ist nicht untersucht, wie viel Besitz dem bundesdeutschen Staat und westdeutschen Konzernen durch den Anschluss der DDR zugefallen ist, welche Gewinne gemacht wurden durch Aneignung von Staatseigentum, von Volkseigentum sowie der Entwertung des geringen Privatvermögens der DDR-Bürger. Um dies zu ermöglichen, musste die DDR delegitimiert werden. Der Ausverkauf der DDR durch die Treuhand war oft kriminell. Schamlos wurde die Unerfahrenheit der DDR-Bürger durch Betrug und Habgier ausgenutzt.
Und die von Ihnen in Bezug auf die DDR konstatierte Gleichschaltung der Sprache soll dazu dienen, alternatives Denken zu verhindern. Genau. Durch ständig neu inszenierte Krisen werden immer neue Alternativlosigkeiten inszeniert. Man muss aber fragen dürfen: Wie freiheitlich-demokratisch und rechtsstaatlich ist die heutige Bundesrepublik
»Für mich war das Leben in der DDR immer interessant«, schreiben Sie an einer Stelle. Und an anderer Stelle: Sie denken mit Vergnügen an die DDR zurück. Aber Sie haben diesen Staat 1984 verlassen? Weil die DDR für mich da nicht mehr interessant war. Ich war müde. Interessant waren die Widersprüche zwischen der Begrenztheit des Alltags, mit der sich alle DDR-Bürger hinsichtlich der äußeren und inneren Grenzen konfrontiert sahen, und den Freiräumen, die sie sich mit viel Fantasie und vor allem Humor zurückeroberten. Ein Humor, der aus dem Widerspruch der Grenzen des Alltags und der geopolitischen Bedeutung der Systemgrenze als Gegensatz empfunden und ausgedrückt wurde. Mit Vergnügen denke ich an die Kunst und Kultur und die Literatur in der DDR zurück, die sich diesem Widerspruch stellte und dafür internationale Anerkennung erfuhr, vor allem auch das Theater. Als Verlust empfinde ich ebenfalls das Verschwinden der gedanklichen und gelebten Gesellschaftlichkeit, also das Verschwinden von Öffentlichkeit, an die Stelle tritt die Privatisierung aller Verhältnisse. Für den Einzelnen wird seine persönliche Präsentation im Gegensatz zu anderen der Maßstab aller Verhältnisse. Alle und alles wird aus Spaltung definiert. Dementsprechend ist auch die deutsche Frage nach wie vor offen. Die Spaltung in Ost und West ist nicht aufgehoben. Woher rührt die Unfähigkeit, sich in den anderen zu versetzen?
Ja, woher? Als Kind habe ich meinen Vater mit meinen Fragen oft genervt, ich wollte wissen, warum das so oder so ist, warum die einen dies meinen und die anderen das tun. Eines Tages antwortete er: »Auf der Welt gibt es so viele Mittelpunkte wie Menschen.« Als ich in die BRD ging, habe ich ihn an diesen Satz erinnert. »Habe ich das gesagt?« Ja. »Das habe ich von Lion Feuchtwanger.« Aus der Trilogie »Der jüdische Krieg«: Da wird ein Senator aus Rom Opfer von Intrigen. Er flieht ins Nachbarreich. Er kann anfangs die Menschen nicht verstehen, aber mit der Zeit gelingt es ihm und ihm wird klar: Es gibt auf der Welt so viele Mittelpunkte wie Menschen. Und Rom ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Es geht eben nicht darum, recht zu haben, sondern etwas zu verstehen.
Interview: Karlen Vesper

